Es ist eigentlich unglaublich: Laufschuhe erfüllen nur selten die Anforderungen, die ein Läufer eigentlich an sie hat. Der Einfluß der Marketingabteilungen der Hersteller ist immer noch zu groß, denn Laufschuhe werden eben nicht ausschließlich von Läufern getragen und müssen daher vor allem auch den modischen Aspekten entsprechen. Wuchtige, mit hohen Dämpfungselementen ausgestattete Schuhe sind zwar “stylish”, verhindern jedoch einen gesunden und effizienten Laufstil.
In Zusammenarbeit mit dem Experten für Laufsport, Dr. med. Matthias Marquardt (Natural Runnig), entwickelte Andreas Kraus, Orthopädie-Schuhtechniker, Lauftrainer und Bewegungs- & Laufanalyst aus Ulm (Orthopädie- & Schuhtechnik Kraus) das Konzept zur Optimierung von Laufschuhen “Tune my Shoe”.
Dazu ein Interview mit dem „Tune my Shoe“ Experten:
Doc Tom: Andreas, wie entstand die Idee, Laufschuhe zu tunen?
Andreas Kraus: Die Idee kam mir während meine Ausbildung zum Bewegungsanalysten und Lauftrainer im Jahr 2007. Inspiriert wurde ich vom Buch “Die Laufbibel”. Der Autor, Dr. Matthias Marquardt, beklagte darin die dicken Zwischensohlen der Laufschuhe, denn dadurch werden die Schuhe in der Abrollbewegung sehr steif. Zusätzlich sind an den meisten Schuhen durch die Fersendämpfungssysteme die Absätze sehr hoch. Überspitzt ausgedrückt rennen wir in Stöckelschuhen. Diesen Thesen wollte ich auf den Grund gehen. Als Orthopädie-Schuhtechniker nutzte ich mein Wissen und mein Equipment und baute mir meine eigenen Laufschuhe nach den Vorgaben von Dr. Marquardt um. Das Ergebnis war einfach verblüffend. Seither stelle ich mir die Frage, warum die Laufschuhindustrie die Schuhe nicht gleich so baut. Auch Dr. Marquardt war von meinen „Umbaumaßnahmen“ begeistert. Seitdem tüfteln wir gemeinsam immer weiter um die Schuhe für das Laufen zu optimieren.
Was sind nun die entscheidenden Fakten, die den Nutzen des Schuhtunings deutlich machen?
Zunächst einmal die Flexibilisierung des Vorfußes durch Flexkerben:
Sie sind wichtig für das korrekte Abdruckverhalten und die Fußmuskeln, denn damit wird erst ein natürliches Laufen ermöglicht. Dieses aktiviert den Großzehenbeuger.
Innovative Ärzte sehen darin eine große Hilfe vor allem bei folgenden Indikationen:
Bei Achillodynie (auch in der Akutphase), da die Achillessehne durch den Großzehenbeuger so besser unterstützt bzw. entlastet wird.
Bei Plantarfasciitis, weil die Plantaraponeurose somit besser aufgedehnt und gekräftigt wird
Beim Spreizfuß, da der schräge Anteil des Großzehenbeugers das Längsgewölbe kräftigt
Beim Medialen Schienbeinkantensyndrom, das oftmals durch eine Überpronation entsteht, welche durch den überlasteten Musculus tibialis posterior nicht mehr verhindert werden kann. Der Großzehenbeuger verläuft am Fersenbeinbalkon vorbei und unterstützt den Musculus tibialis posterior bei seiner Arbeit.
Wichtig ist, das bei einem Hallux rigidus die Flexkerben jedoch nicht angebracht werden sollten.
Anbringen der Flexkerben
Bringt das Anbringen der Flexkerben irgendwelche Nachteile bezüglich der Haltbarkeit des Materials?
Bislang hatte ich keinerlei Reklamationen. Ich verwende ein Spezialwerkzeug um die Kerben anzubringen, so dass ein weiteres Einreissen der Sohle bislang nie der Fall war. Aber Achtung: Es geht nicht darum, irgendwelche Schnitte irgendwo in der Sohle. Die Einschnitte müssen genau auf die Ganglinie abgestimmt sein, damit die Großzehe sich richtig bewegen kann!
Was für weitere Modifikationen werden beim Laufschuhtuning durchgeführt?
Besonders wichtig ist auch die Reduktion der Absatzhöhe; Zuerst muss man aber erklären, welche negative Auswirkungen ein Absatz hat:
Es entstehen Verkürzungen der Wadenmuskulatur, eine unnatürliche Beckenkippung mit daraus resultierenden Rückenschmerzen, übermäßige Belastungen des Kniegelenks mit daraus resultierenden Verschleißerscheinungen, Krampfadern (da die Muskelvenenpumpe viel passiver ist) und schmerzhafte Spreizfüße, da durch den Absatz viel Gewicht auf dem Vorfuß lastet.
Dementsprechend hat eine Absatzreduzierung besonders gute Erfolge bei Hyperlordisierung der Lendenwirbelsäule (da die hohen Absätze ein Hohlkreuz verstärken), bei retropatellaren Schmerzen (hohe Absätze verstärken die “sitzende Position” und drücken dadurch die Kniescheibe in das Kniegelenksgleitlager), bei Spreizfüssen (je höher der Absatz, desto mehr Körpergewicht wird von der Ferse auf den Ballen umverteilt), beim vorderen Schienbeinkantensyndrom (bei Schuhen mit Absätzen wird verstärkt der Vorfuß zur Nase angezogen mit einer daraus resultierenden Überlastung des Musculus tibialis anterior) und bei Achillodynie (beim Rückfuß-Laufstil entsteht ein Peitscheneffekt für die Achillessehne).
Insgesamt entsteht mit weniger Absatz ein aktiverer Laufstil. Daher sollte bei akuter Achillodynie, akutem medialem Schienbeinkantensyndrom und akuter Tendinitis der langen Flexoren (Sehnenentzündung der streckenden Muskeln) auf ein schnelles und radikales Umsteigen auf ultraflache Laufschuhe verzichtet werden.
Aus diesem Grund kann jeder Kunde individuell entscheiden (auch nach Rücksprache seines behandelnden Sportarztes), ob er den Absatz zur Hälfte (Läufer mit Beschwerden der Wade bzw. Achillessehne) oder ganz (gesunder Läufer) entfernt haben möchte. Ich empfehle ein langsames Herantasten zum Schuh ohne Absatz.
Unterschied: vor und nach dem Laufschuhtuning
So gut es sich auch anfühlen mag: Unsere Füße haben sich ein Leben lang an die Absätze gewöhnt. Von heute auf morgen ist kein Umstieg möglich. Letztlich sollten wir uns jedoch dorthin bewegen, wie es die Evolution für uns vorgesehen hat: Wäre ein Absatz biomechanisch sinnvoll, hätten wir im Laufe der Jahre wohl ein “Fersenbein mit Absatz” bekommen.
Wieviele Schuhe hast Du bisher „getuned“?
Zwischenzeitlich habe ich über 300 Schuhe getuned – vom Breiten- bis zum Spitzensportler. Auch Clemens Coenen (IM Amateurweltmeister von 2008) läuft mit von mir getunten Laufschuhen.
Clemens Coenen läuft im Wettkampf mit von Andreas Kraus getunten Laufschuhen
Lässt sich jeder Schuh tunen und wie aufwendig ist das? Was kostet ein Laufschuhtuning?
Je geringer der Tuningaufwand, desto geringer die Kosten. Zuerst wird der Laufschuh genauestens vermessen und eingezeichnet. Dann muß ich die Sohle in der Mitte aufspalten und das überflüssige material entfernen. Bei einer Sohle aus Vollgummi geht das sehr gut. Hat die Sohle jedoch tiefe Kerben, spezielle Elemente oder Lufteinschlüsse ist das oft nicht ganz einfach. Das Tuning wird damit aufwendig und teuer. Aber bei 90 Prozent der Schuhe geht’s problemlos.
Ist das Schuhtuning nur für Läufer empfehlenswert?
Nochmals zum Punkt, warum das Schuhtuning notwendig wurde: Ich wage zu behaupten, dass die Laufschuhe von der Schuhindustrie nicht nur für die speziellen Bedürfnisse der Läufer gemacht werden. Vielmehr werden die Mehrzahl der Laufschuhe von den Kids auf der Straße und in der Disco getragen. Die Schuhe müssen daher insofern vor allem auch modische Belange erfüllen. Ich vergleiche das gerne mit den Autos: Sicherlich bringt nicht jeder Spoiler eine aerodynamische Verbesserung. Dennoch kommt er ans Auto, weil die Marketingabteilung davon ausgeht, dass sich das Auto so besser verkaufen lässt.
Beim diesjährigen Schuhtest (2011) im Triathlon Magazin befand sich ein Laufschuh mit 18 mm Absatzsprengung! Ein Stöckelschuh als Laufschuh! Daraus resultiert die Notwendigkeit des Tunings!
Wo und wie kann ich das Schuhtuning bei meinen Laufschuhen durchführen lassen?
Für Kunden aus Deutschland gibt es – in Zusammenarbeit mit Dr. Matthias Marquardt – ausführliche Informationen und ein Bestellformular zum Downloaden auf meiner Homepage Vital-Laufen.de oder bei Natural Running.
In Österreich gibt es exklusiv die Möglichkeit in Zusammenarbeit mit der Sportordination VIVA, wo man das Bestellformular auf der Homepage ebenfalls downloaden kann.
Danke für das Interview!