Aber wie so oft im Leben: Es kommt anders als geplant.
Ab Kilometer 18 begann nämlich plötzlich meine rechte Wade zu krampfen – wieso das? Meine Wadenprobleme in der Vorbereitung hatte ich doch wenn, dann schon links, was sollte das jetzt plötzlich rechts?
Ich versuchte das Ganze soweit wie möglich zu ignorieren, musste aber trotzdem etwas Pace herausnehmen, um keinen kompletten Wadenkrampf zu provozieren. Dies gelang mir auch einigermassen und so passierte ich mit bereits deutlich reduziertem Lauftempo die Halbmarathonmarke. Ich dachte nur: „Solange es so geht, ist es auch OK und ich genieße einfach das Marathonerlebnis hier in Tokyo soweit wie möglich weiter.“
Bei Kilometer 22 war dann allerdings Schluss mit lustig: Plötzlich gab es mir einen sschmerzhaften Schnalzer und Stich in der rechten Wade (so als hätte mir jemand von hinten in die Wade geschossen – aber ich konnte bei bestem Willen kein Einschussloch erkennen) und einige meiner Muskelfasern im äußeren rechten Wadenmuskel verabschiedeten sich (aufgrund des immer praller werdenden Zustandes meiner Wade, schloss ich, dass es sich leider nicht nur eine Zerrung , sondern um einen Muskelfasereinriss handelte).
Ab dem Zeitpunkt war Laufen an diesem Tag leider so gut wie kein Thema mehr. Das Rennen begann für mich quasi neu und das einzige Ziel ab diesem Moment war, es nur irgendwie über die Ziellinie zu schaffen um das Rennen erfolgreich zu finishen und den Tokyo Marathon auf meiner World Marathon Major Liste erfolgreich abhaken zu können (Ehrlich gesagt: Jedes andere Rennen außerhalb der Marathon Majors Serie hätte ich an diesem Punkt augenblicklich beendet – aber nochmal nach Tokyo zu fliegen, für einen neuerlichen Marathonstart hier: Nein! Das galt es zu verhindern!).
Um es abzukürzen: Es wurden 22 ENDLOS lange und schmerzhafte Kilometer für mich in Richtung Ziel – als medizinischer Sachverständiger würde ich es folgendermaßen beschreiben: Der Läufer bewältigte die Laufstrecke rechtshumpelnd mit temporären Gangpassagen und schmerzhaft verzehrtem Gesichtsausdruck.
In diesem Zustand ging es der 30 Kilometer Marke auf der Ginza Avenue (der berühmtesten Einkaufsstrasse Tokyos) entgegen und dann weiter in einer letzten 10km Schleife Richtung Südwesten Tokyos nach Shinagawa (zum Wendepunkt bei Kilometer 35) und zurück zum Zielbereich am Randes des Imperial Palace East Garden (dem Kaiserpark).
Zu allem Überfluss wurde ich beim „Entlanglaufhumpeln“ dieser Schleife auch noch von einem japanischen Reporter auf einem TV-Begleitmotorrad als unfreiwilliges Opfer auserkoren (entweder war ich für sie der Held der Marathonläufer, der sich auch verletzt die Marathonstrecke bis zum bitteren Ende entlangquält, oder – was ich persönlich eher denke – das Klamaukopfer für den spassigen Zusammenschnitt am Ende der lokalen Tokyo-Marathonberichterstattung 😉 (ähnlich dem lustigen Zusammenschnitt nach der jährlichen Streifübertragung von Kitzbühel, wo man die Eispiste herunterkugelnde Skitouristen sieht). Habe ich übrigens schon erwähnt, dass sich viele Japaner sehr gerne über die unmöglichsten Sachen lustig machen und lachen? 😛 ).
Naja, ich konnte mich in dem Augenblick sowieso nicht wehren, denn verstanden habe ich den mitfahrenden Reporter, der ununterbrochen auf mich eingeredete, nicht.
Trotz mehrmaliger Intervention sich doch ein interessanteres Objekt für seine Marathonberichterstattung auszusuchen, blieb er an mir dran: Dem „Crazy Australian“ *ggg* (ja, ich gebe zu, nach dem 100. Versuch ihm zu erklären, dass ich aus „Austria“ und nicht aus „Australia“ bin, habe ich es aufgegeben und der Begriff „Mozart“ (den kennt in Japan jeder) als kleinen Hinweis auf mein Herkunftsland fiel mir zu diesem Zeitpunkt leider nicht ein) und so wurde mein „Leiden“ an diesem Tag auch noch bildtechnisch von einem Reporter bis ins Ziel begleitet.
Mit qualvoller 6 bis niedrigen 7 Minuten Laufpace versuchte ich nun Meter für Meter dem Ziel näher zu kommen und nach unglaublich schmerzhaften 3:56.14 Stunden und insgesamt absolvierten 44,62 Kilometern humpelte ich mehr oder weniger über die Ziellinie.
Dort wurde ich von meinem persönlichen Begleiter an diesem Tag, dem japanischen Reporter, nachdem ich ihm endlich sein lang ersehntes Interview im Ziel gegeben hatte (zum Glück war ich immer noch der „Australier“ für ihn 😉 ) von freundlichen Mitarbeitern des Medical Service mit einem Sitzwagerl empfangen, mit dem ich zum medizinischen Rapport ins Medical Zelt wenige Meter nach der Ziellinie geschoben wurde. Dort wartete die nächste Challenge des Tages auf mich, denn ich musste den dort anwesenden Paramedics irgendwie klarmachen, dass ich auf gar keinen Fall die freundlichst und konsequent angebotene Massage für meine aus ihrer Sicht krampfenden rechte Wade in Anspruch nehmen, sondern lediglich einen Eisbeutel und eine Kompressionsbandage haben wollte. Zumindest das mit dem Eisbeutel funktionierte schlussendlich (und auch die Massage meines Muskelfaserrisses konnte ich verhindern – schon allein das Ankommen an der Wade hätte mich augenblicklich etwas „unzähmbar“ gemacht) und nachdem man mir im Medical Zelt glaubhaft versichert hatte, dass der Transferbus zurück ins Hotel gleich rechts ums Eck steht, verzichtete ich auch auf den angebotenen Sitzsesseltransport dorthin und humpelte davon weiter durch den Zielbereich.
Hätte ich gewusst was mich erwartet, ich hätte den Sitzsesseltransport augenblicklich in Anspruch genommen.
Das „Einmal gleich rechts ums Eck“ entpuppte sich als etwa 5km Marsch (der bei mir aufgrund meines Zustandes gefühlt fast 2 Stunden dauerte) mit zahlreichen Treppen zurück zu den Transferbussen.
Ansonsten war auch der Ablauf im Zielbereich strengstens geordnet und perfekt organisiert. Gleich nach der Ziellinie wurde man seiner Startnummernfarbe nach in einen entsprechenden Korridor geleitet (selbstverständlich mit einem Lächeln, tausenden Gratulationen und einer Entschuldigung) wo man eine Art Stationsbetrieb mit unterschiedlichen Posten jeweils im Abstand von ca 100m im wahrsten Sinne des Wortes abwanderte.
Der Reihenfolge nach: Finisherhandtuch, wärmende Folie, Isogetränk, Finishermedaille, leeres Plastiksackerl für die kommenden Stationen: Banane, Wasserflasche,
(bitte jede/r nur eine Wasserflasche nehmen!)
nicht identifizierbares Etwas (schaut aus wie ein Carboriegel), Erdnussbrötchen, Eisspray und alkoholfreies japanisches Bier in Dosenform.Damit war das zuerst leere Plastiksackerl voll und man durfte weiter in Richtung Kleiderbusse gehen, die man auch nach weiteren ca 2km Fussmarsch in seiner nach wie vor vom Laufen verschwitzten und nassen Kleidung erreichte (zum Glück schien bei mir um die Mittagszeit die Sonne noch wärmend herab, die mir auch noch zu einem Sonnenbrand im Gesicht verhalf).
Nach Erhalt des Kleiderbeutels weiter im Korridor zum Kleiderwechselbereich und danach – nach wieder unzähligen Möglichkeiten für alle möglichen lustigen Spielchen im Finisherbereich, die ich aber leider wieder einmal auslassen musste – den bereits bei der Startnummerausgabe ausgehändigten Transfersticker gut sichtbar an der Kleidung angebracht. Damit gekennzeichnet dann weiter im entsprechenden unendlich weiten Korridor zum jeweilig passenden Transferbus und dann endlich sitzen auf der Fahrt zurück ins Hotel.
Dort angekommen, plünderte ich zuallererst meine Reiseapotheke und duschte meine Wade mehrere Minuten eiskalt ab, um danach sämtliche Bandagen, kühlenden Cremen und meine kompletten Kompressionstextilien über mein Bein zu stülpen, denn mittlerweile konnte ich schon gar nicht mehr auf mein rechtes Bein aufsteigen.
Mehr als zum Abendessen an diesem Tag zu humpeln war an diesem Tag dann nicht mehr drin und ich versuchte die Nacht möglichst schmerzfrei über die Runden zu bringen.
Am nächsten Tag war ich zumindest soweit wieder hergestellt, dass ich mich humpelnd wieder halbwegs vorwärtsbewegen konnte und so machten wir uns noch einmal zu einer sehr langsamen Sightseeingrunde mit der U-Bahn quer durch Tokyo auf (dankenswerterweise wurde mir an diesem Tag in jedem der übervollen U-Bahnzüge von einem freundlichen Japaner ein Sitzplatz überlassen – ich sah wohl tatsächlich etwas zerstört aus 😉 ).
Und obwohl ich mehr kriechend als gehend an diesem Tag unterwegs war, schafften wir in der Hälfte der Zeit nicht nur mehr Sehenswürdigkeiten in Tokyo als bei der offiziellen organisierten Sightseeingrunde Tage davor 🙂 , sondern fanden auch die eine oder andere interessante Seitenstrasse abseits der Menschenmassen.
Und hier, wie versprochen, noch die Auflösung zum Thema: Wie fahre ich richtig U-Bahn in Tokyo?
Es gibt in Tokyo mehrere Unternehmen, die jeweils einzelne U-Bahnlinien betreiben und aus diesem Grund benötigt man auch unterschiedliche Tickets für die jeweils unterschiedlichen Linien. Diese Tickets sind schon notwendig, um überhaupt durch die entsprechenden Schleusen zu den jeweiligen U-Bahnlinien zu gelangen. Hat man also ein Ticket einer U-Bahngesellschaft für eine entsprechende U-Bahnlinie gekauft, kann es leicht passieren, dass dieses auf einer anderen U-Bahnlinie nicht funktioniert, da diese zu einem anderen Unternehmen gehört. Es kann also vor allem zu Beginn seiner Tokyoerfahrungen etwas kompliziert werden, wenn man nicht weiß, welches Ticket zu welcher Linie gehört.
Aus diesem Grund ist eine ganz einfache Lösung zu empfehlen: Man kauft sich für eine Kaution von 500Yen (= etwa 4 €) eine U-Bahn-Plastikkarte zum Aufladen an einem der Infopoints in fast jeder größeren U-Bahnstation und ladet auf diese Karte dann an einem der zahlreichen Automaten an jeder U-Bahnschleuse ein Guthaben auf (für einen Tag wären mit viel U-Bahnfahren, wie zB auf einer Sightseeingtour, etwa 3000Yen zu empfehlen).
Mit dieser Karte kann man dann unkompliziert mit jeder der unterschiedlichen U-Bahnlinie fahren, da beim Durchschreiten der entsprechenden U-Bahn-Schleusen der jeweilige gefahrene Betrag für die entsprechende Linie automatisch von der Karte abgebucht wird (und hat man mal zuwenig Guthaben auf der Karte, sind sofort mindestens drei freundlich lächelnde U-Bahn-Wärter da, die einem den Weg zum nächsten Aufladeautomaten zeigen. That’s it! 😉 )
Es kann also nichts passieren und damit wird auch selbständiges U-Bahnfahren in Tokyo nach kurzer Eingewöhnung zum absoluten Kinderspiel.
Zudem sind alle U-Bahn-Stationen mit einer eigenen Zahl und der entsprechenden Linie(nfarbe) gekennzeichnet, weshalb man nur schauen muss, zu welcher Farbe und Nummer man muss und damit leicht durch das auf den ersten Blick kompliziert wirkende U-Bahnsystem von Tokyo jonglieren kann.
Ein weiterer wichtiger Punkt vor allem für Alleinreisende: Trotz der teilweise unüberschaubaren Menschenmengen in den U-Bahnbereichen Tokyo’s habe ich mich niemals auch nur irgendwie unsicher gefühlt.
Ein weiteres typisches Merkmal von Tokyo: Ich habe selten eine so saubere Stadt gesehen wie Tokyo und das, obwohl es in den öffentlichen Bereichen so gut wie keine öffentlichen Mistkübel gibt und gleichzeitig so viele Menschen in Tokyo auf den Strassen unterwegs sind. Papier, Plastik oder Zigaretten am Boden – nicht in Tokyo. Hier nimmt jede/r seinen Dreck anscheinend noch selber mit nach Hause. Sehr bewundernswert und erstaunlich für eine so große Metropole wie Tokyo.
Zudem ist in Tokyo so gut wie alles beschildert (unter anderem auch jeder U-Bahnzugang mit der exakten Angabe der jeweiligen Meereshöhe)
Wie gesagt, konnten wir am letzten Tag noch einige Sehenswürdigkeiten in Tokyo besuchen, wovon ich zumindest eines als absolutes „Must-Do“ ansehe:
Den Tokyo Sky Tree (660m hoch) und ein wahrlich beeindruckendes Bauwerk mit sensationellem Blick auf Tokyo und das Umland (bei gutem Wetter bis zum Mount Fuji).
Hier lohnt es sich ein paar Euro mehr zu investieren und auf das oberste Aussichtsdeck zu fahren (kostet etwa 10 Euro extra). So hoch hinauf auf ein Bauwerk kommt man sehr wahrscheinlich nicht mehr so oft im Leben.
Ein Einkaufsbummel entlang der Ginza Road (die ich schon Tags zuvor beim Marathon entlang gehumpelt war)
und der Besuch der Shibuya Station
mit dem Denkmal für Japan’s treuesten Hund (Hachiko – wer kennt sie nicht, die Verfilmung mit Richard Gere?!) und der für Tokyo berühmten Strassenkreuzung in Shibuya.
Hier queren während einer Ampelphase innnerhalb von 45 Sekunden fast 2.000 Menschen diese Kreuzung kreuz und quer in alle Richtungen in scheinbar vollkommenen Chaos, bevor dann wieder für knapp 2 Minuten ganz geordnet und ungehindert der Verkehr über die Kreuzung fährt und danach das Schauspiel von Neuem beginnt.
Und damit war dann nicht nur der Tokyo Marathon erfolgreich absolviert und Geschichte, sondern auch die Tage rund um den Marathon wieder einmal viel zu schnell vorbei.
Mein Fazit: Ein perfekt organisiertes Marathonevent in einem besonderen Land am anderen Ende der Welt mit einer interessanten Kultur und Lebensweise.
Auch für alle, die nicht zum Marathon in Tokyo fahren, auf jeden Fall ein lohnendes Reiseziel und all jenen, denen der Tokyo Marathon unter anderem auf ihrem Weg zur erfolgreichen Absolvierung der World Marathon Major Serie noch fehlt, sei gesagt: Freut Euch auf dieses sportliche Event in Tokyo, die gewaltigen Massen, die tolle Stimmung und die japanische Kultur – ein wahrlich einmaliges Erlebnis!
4 von 6 – Check! 😉
In diesem Sinne: Konichiwa!
Euer Doc Tom
Danke Doc Tom
toller Arztikel
hat mir sehr geholfen
ich hoffe Du bist wieder gesund
Liebe Grüße aus Berlin