Auf meinem Weg die World Marathon Major (WMM) Serie komplett zu absolvieren stand für dieses Jahr eigentlich der London Marathon, der immer im April stattfindet, auf meinem Programm. Da man sich für diesen Marathon aber nicht über seine gelaufenen Marathonzeiten (ausgenommen einheimische LäuferInnen) für einen Startplatz qualifizieren kann, die Mehrzahl der Startplätze zumeist über sehr kostenintensive Charity-Aktionen vergeben werden und die Startplätze für Österreicher mehr als limitiert sind, wurde mir bereits im Herbst des Vorjahres mitgeteilt, dass ich auch für den London Marathon 2018 keinen Startplatz bekommen werde (obwohl ich mich schon mehrere Jahre auf entsprechenden Wartelisten für einen Startplatz vormerken habe lassen).
Da mir auch der Boston Marathon im Zuge der WMM Serie noch fehlte -den ich eigentlich aus sentimentalen Gründen als letzten dieser Marathon Serie absolvieren wollte, quasi als krönenden Abschluss- entschloß ich kurzerhand im September mich für diesen Marathon anzumelden und bekam glücklicherweise auch einen Startplatz dafür. Somit stand dem Boston Marathon 2018 nichts mehr im Wege und die Vorbereitung darauf konnte beginnen.
Der Boston Marathon – DER Marathon unter den Marathons
Der Boston Marathon ist nicht nur einer der geschichtsträchtigsten Marathons überhaupt, sondern auch der älteste Marathon, in diesem Jahr ging die 122gste (!) Auflage des Boston Marathon über die Bühne.
Traditionsgemäß findet der Boston Marathon immer am Patriots‘ Day statt, demnach immer an einem Montag (dieses Jahr am 16.4.2018) und führt über eine einzigartige und legendäre Strecke auf der bereits mehrfach Geschichte geschrieben wurde. So nahm am Boston Marathon u.a. zum ersten Mal in der Geschichte des Laufsports eine Frau an einem Marathon Rennen teil und ebnete damit den Weg für Frauen im Lauf- und Marathonsport. Leider fand dort auch vor 5 Jahren eine der größten Schreckenstaten der jüngsten Vergangenheit in Form eines Sprengstoffanschlages in unmittelbarer Zielnähe statt, bei dem viele Zuschauer getötet und verletzt wurden. Diese Wahnsinnstat verursachte allerdings nicht nur viel Schmerz, sondern auch ein noch nie dagewesenes Zusammengehörigekeitsgefühl und eine große Solidarität nicht nur innerhalb der Bostoner Bevölkerung, sondern auch mit diesem großartigen Laufevent und seinen TeilnehmerInnen, was sich auch im Slogan „Boston Strong“ allgegenwärtig in der Stadt, der Bevölkerung und den MarathonteilnehmerInnen aus aller Welt zeigt. Es gibt wohl kaum einen Teilnehmer des Marathons, der in den Tagen vor dem Bewerb nicht einige Minuten andächtig an der Gedenkstätte des Anschlags von 2013 unmittelbar beim Ziel stehengeblieben ist und innegehalten hat.
Die Laufstrecke des Boston Marathon ist ebenso legendär wie einzigartig: Die historische Startlinie liegt auf der Main Street in dem kleinen Städtchen Hopkinton und führt über die Route 135 durch Ashland, Framingham, Natick nach Wellesley (wo die Halbmarathondistanz erreicht wird) und weiter über die Route 16 durch Newton, wo man bei der legendären Feuerwache rechts in die Commonwealth Avenue auf die Route 30 abbiegt und als begeisterter Marathoni weiß, was dann in Kürze auf einen wartet: der geschichtsträchtige und berüchtigte Heartbreak Hill zwischen Meile 20 und 21 (die paar Hügelchen davor nicht zu vergessen – was aus dem Heartbreak Hill die Heartbreak Hills macht) und danach weiter durch Brookline nach Boston nahe des Hancock Towers in Copley Square über die Ziellinie auf der Boylston Street direkt vor der Boston Public Library.
Zwar gibt es auf dieser Strecke einen Weltrekord, allerdings ist dieser nur inoffiziell, da die Boston Marathon Strecke nicht den offiziellen Voraussetzungen für eine Marathonstrecke für gültige Weltrekorde entspricht (dafür ist u.a. der Start- und Zielbereich zuweit voneinander entfernt). Insgesamt ist die Laufstrecke des Boston Marathon als schnelle Strecke bekannt, da sie viele neagtive Höhenmeter vom Start- bis in den Zielbereich aufweist, ich musste allerdings feststellen, dass die vielen kleinen Anstiege einem mit der Zeit ganz schön Energie und auch „den Nerv“ ziehen können (aber dazu dann später).
Ich flog also am Freitag vor dem Rennen zusammen mit meinem lieben Freund und großartigen (und viel viel schnelleren) Laufkollegen Martin nach Boston, wo wir relativ relaxt im Hotel ankamen. Wir residierten im Sheraton Hotel direkt in Zielnähe und somit machten wir gleich mal nach unserer Ankunft bei einem kurzen Spaziergang einen abendlichen Lokalaugenschein im Zielbereich, statteten der berühmten Ziellinie einen Besuch ab und gedachten einige Augenblicke an der Gedenkstätte der Opfer des Bombenattentates im Jahr 2013.
Betreut wurden wir übrigens vor Ort von unserem Reiseleiter Andi von Runners Unlimited, der vor Ort einen großartigen Job machte. Leicht hatte er es mit uns nicht, denn wir mussten bereits vor Antritt der Reise entsetzt feststellen, dass wir in der letzten und langsamsten Startwelle starten mussten. Die Ursache dafür lag daran, dass unsere Qualifikationszeiten auf Grund einer organisatorischen Panne nicht rechtzeitig weitergeleitet wurden. Somit fanden wir uns jetzt im allerletzten Startblock wieder. Für uns, die wir ursprünglich eine Zielzeit von unter 3 Stunden angestrebt hatten, eine Ernüchterung der „anderen Art“, da wir aus Erfahrung wussten, wie mühsam die ersten 10-15km mit Überholen und Zick-Zack-Laufen durch langsamere LäuferInnen werden würde und Andi hatte alle Hände voll zu tun, um unseren diesbezüglichen Frust in Grenzen zu halten. Dass sich unsere Startnummern in diesem Jahr nicht unbedingt nachteilig auswirken sollten, konnten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen und so bestand der Samstag hauptsächlich darin ergebnislos bei den offiziellen des Marathonveranstalters um eine vordere Startnummer zu bitten. Wer die Amerikaner und vor allem ihre Organisationsstrukturen kennt weiß sofort: Das hat keinen Sinn. Deadline ist Deadline und wenn mal etwas steht, dann steht es. Es gab also leider nicht daran zu rütteln und wir mussten zur Kenntnis nehmen, dass unser Marathonabenteuer in Boston auf der ersten Hälfte wohl eher einem Hindernisrennen gleichen würde.
Was uns ebenfalls etwas Sorge bereitete, war die Wettervorhersage für den Renntag, denn es wurde ein ordentlicher Schlechtwettereinbruch für diesen Tag vorhergesagt. Wir hofften dennoch, dass es nicht so schlecht wie angekündigt sein würde und verbrachten den Samstag zum einen auf der Marathon-EXPO, um unsere Startnummern abzuholen, Neues und Interessantes auf dem Laufsportmarkt zu sehen und auch das eine oder andere einzukaufen. Am Nachmittag absolvierten wir dann noch einen kurzen Lauf quer durch Boston (mit 600.000 Einwohnern zählt Boston ja nicht unbedingt zu den größten Städten), bevor wir zum Chillen ins Hotel zurückkehrten.
Am Sonntag stand für uns nach Ausschlafen und Frühstück eine knapp 4-stündige Stadtrundfahrt am Programm und schon das Wetter an diesem Tag ließ leider nichts Gutes für den anstehenden Renntag verheißen, es wurde nämlich zunehmend immer kälter und windiger und so waren wir froh im Bus durch Boston gefahren zu werden. Auf Grund des immer schlechter werdenden Wetters verließ auch kaum jemand mehr den Bus, außer um kurz ein paar Fotos der Bostoner Sehenswürdigkeiten zu machen. Auch ein geplanter Rundgang durch Beacon Street (dem ursprünglichsten Viertel von Boston – heute das teuerste „Pflaster“ in Boston und man kaum an einem Hauseingang vorbeikommt, wo keine Tafel mit Namen berühmter Persönlcihkeiten, die einmal in diesen Häusern gewohnt haben, stehen). Obwohl die Häuser und teilweise auch die Fahrbahnen in diesem Viertel von Außen gesehen großteils eher „schäbig“ aussehen, offenbaren sich im Inneren meist großartige Schätze und Wohnräume, wie man sie nur aus entsprechenden Wohnzeitschriften kennt und grandiose kleine Gärten und Hinterhöfe. Martin und ich durchquerten dieses Viertel spazierend dann noch am Tag nach dem Marathon um unsere vom Marathon gezeichnete Beinmuskulatur etwas aufzulockern.
Auch der Havard Universität statteten wir einen Besuch ab und spazierten über den berühmten Campus, um wenigstens ein bißchen den geschichsträchtigen Geist von Harvard zu spüren.
Der Rest des Sonntags hieß es dann aber Füsse hochlegen, entspannen und die Energiespeicher zu füllen – und das Wetter, das immer schlechter wurde, möglichst zu ignorieren.
Der Renntag selbst begann mit einem Schock: Draußen stürmte und regnete es in Strömen und die Temperatur lag wenn überhaupt nur knapp über dem Gefrierpunkt.
Keine Wetter-App oder Wetterseite, die wir nicht nach einem positiveren Wetterbericht für die anstehenden Rennstunden durchkämmten. Am liebsten wären wir einfach im Bett liegengeblieben (und ehrlich gesagt: Wäre ich nicht den ganzen Weg für den Marathon nach Boston geflogen, ich wäre nicht an den Start gegangen).
Somit entpuppten sich unsere Startnummerm im letzten Startblock in diesem Fall als Pluspunkt, da wir nicht schon – wie die vorderen Startblöcke – bereits Stunden vor dem Start in das Schlechtwetter hinaus und vor Ort in Hopkinton stundenlang auf den Start warten mussten. Wir entschieden uns einen der letzten Shuttlebusse (die alle MarathonteilnehmerInnen vom Zielbereich gratis zum Start fuhren) zu nehmen und somit die Wartezeit vor Ort für uns deutlich zu verkürzen. Der offizielle Start war um 10.00 Uhr und unsere Startzeit (Startwelle 4) für etwa 11.30 Uhr vorgesehen.
Die große Frage war nun jedoch: Was anziehen? Laut Wetterbericht sollte es im Laufe des Rennens wettermäßig etwas besser werden und nasses Textil am Körper bei sehr kalten und windigen Temperaturen ist über Stunden auch nicht gerade förderlich für ein gutes Laufgefühl. Somit entschieden wir uns eher für die Minimalvariante (in meinem Fall Kurzarmtrikot, kurze Lauftight, kurze dünne Socken, Stirnband, Sonnenbrille 🙂 🙂 🙂 und Ärmlinge), was sich im Rennen noch als ziemlicher Fehler herausstellen sollte (eine wärmende Jacke und darüber einen wasserdichten Windbreaker mit Kapuze sowie eine lange und möglichst winddichte Lauftight wären an diesem Tag das Mindestausmaß an Bekleidung und damit wäre sicherlich auch eine deutlich bessere Wettkampfzeit möglich gewesen – mal ganz abgesehen von Haube und Handschuhen! Aber zu der Zeit dachte ich noch „bitte wer läuft so ein ernsthaftes Marathonrennen im Frühling“? Erst als wir die Siegerin der Frauen in der späteren Berichterstattung mit dicker und wärmender Jacke auf der Laufstrecke sahen, wussten wir, dass wir zumindets bekleidungstechnsich an diesem Tag wahrlich nicht klug gehandelt hatten.
Dick in Decken und Plastikregencapes eingehüllt begaben wir uns zu den Shuttlebussen und fuhren etwa 60 Minuten lang in den zugigen Bussen schon deutlich frierend zum Startbereich nach Hopkinton, während das Rennen dort bereits gestartet wurde. Dort angekommen erwartete uns nicht nur teilweise schneebedeckte Umgebung, sondern vor allem die reine Sumpflandschaft (teilweise versank man knöcheltief im Morast) und eine Wartezeit in strömenden Regen und Sturm unter freiem Himmel (da die aufgestellten Zelte ebenfalls bereits nur mehr wasserdurchtränkten Mooren glichen) und wir beschlossen nach einem kurzen Aufwärmen Richtung Startlinie zu gehen, um auch unser Rennen zu starten. Der einzige Vorteil war, dass man sich zu dieser Zeit und auf Grund der Verhältnisse bei keinem einzigen Dixie-Klo mehr anstellen hätte müssen, allerdings waren die Klos auch so ziemlich unerreichbar, weil man Gefahr lief auf dem Weg dorthin im Sumpf zu versinken und wir sahen nicht wenige, die bereits vor dem Rennen Gatschdurchtränkte Laufschuhe und Beine bis knapp zu den Knien hatten.
Amüsantes Detail am Rande: Als Martin und ich bereits vollkommen regendurchnässt kurz Schutz im dichten Gedränge unter einem kleinen Dachvorsprung suchten, um uns vor unserem Start rennfertig zu machen, wurde Martin von einer Frau entrüstet darauf hingeweisen, dass er doch bitte Abstand zu ihr lassen und sie nicht berühren solle, da sie auf keinen Fall nass werden wolle – das war in Anbetracht der Situation und dem bevorstehenden Rennen bei diesem Wetter mehr als witzig.
Schlussendlich machten wir uns vom Startbereich aus – nach wie vor dick eingehüllt und mit Plastiküberwürfen behangen – auf dem Weg Richtung Startlinie, gefühlt durchquerten wir so ziemlich alle Strassen des Örtchens Hopkinton und konnten kaum unseren Blick nach vorne werfen, da uns unbarmherzig der heftige Wind den Regen ins Gesicht peitschte. So trabten wir voran und übersahen beinahe die Startlinie.
Da wir von den großen Marathons, bei denen wir normalerweise ja zumeist im vorderen Bereich starten, eine große Startzeremonie und viele aufgeregte Läufermassen vor der Startlinie kennen, war es diesmal total ungewohnt, dass es hier (auch anbetrachts des schlechten Wetters und vor allem unserer Startwelle) vollkommen unspektakulär von statten ging. Hätte ich nicht zufällig meinen Blick in diesem Moment etwas nach vorne geworfen und dabei die Startlinie etwa zwei Meter vor mir gesehen, Martin und ich wären vermutlich völlig überrascht darüber hinwegspaziert. So streiften wir (dummerweise) augenblicklich so ziemlich alles Wärmendes von uns ab, wünschten uns schnell noch alles Gute und starteten unser Marathonabenteuer.
Ein Marathon durch Regen & Kälte
Ursprünglich war mein Plan solange wie möglich mit Martin mitzulaufen, da ich allerdings bereits beim Loslaufen durch meine falsche Kleidungswahl vor Kälte ordentlich zitterte, ließ ich ihn ziehen und versuche eine Pace zu finden, bei der mir am wenigsten kalt und meine Muskeln bei der Kälte am Besten funktionieren würden – absolut vergeblich.
Zudem musste ich auf den ersten Kilometern im Sekundentakt teilweise bereits gehende oder in einer Reihe nebeneinander langsamst trabende Läufergruppen umkurven, was absolut keinen Laufrhythmus aufkommen ließ.
Auch der Rat, dass man einfach ganz am Rand der Strecke die langsamen LäuferInnen überholen kann, war nicht umsetzzbar, weil sich hier inzwischen durch die massiven Regenfälle teilweise knöcheltiefe Abflüsse gebildet hatten und das Ganze eher ein Wassertreten als Laufen war. Zudem der eisig kalte Gegenwind, der einen teilweise wie gegen eine Eiswand laufen ließ (von den heftigen Böen mal ganz abgesehen) und Temperaturen, die nicht und nicht wärmer werden wollten.
Um mich herum liefen alle LäuferInnen dick eingehüllt mit Plastikumhängen und versuchten so den widrigen Wetterbedingungen zu trotzen und obwohl ich diese anfänglich noch belächelt hatte (wie bitte kann man so einen Marathon laufen?). beneidete ich sie auf jedem Meter mehr, den ich absolvierte, denn das Wetter wurde immer schlimmer, der Regen immer heftiger (teilweise schüttete es wie bei einem Platzregen aus vollen Rohren) und der eisige Gegenwind ließ meine Laufbekleidung im Brustbereich steif frieren, was nicht nur meine Atmung behinderte, sondern auch mein Ganzkörperzittern immer mehr verstärkte.
Zudem war auch die Strecke im Anfangsbereich nicht ganz so abschüssig wie gedacht, da immer wieder kleine, gemeine Anstiege eingestreut waren, die vor allem dann ein Problem darstellen, wenn man dabei Zick-Zack um langsame LäuferInnen herumlaufen muss und keinen Laufrhythmus findet (an ein normalerweise stattfindendes „Dahinrollen“ zu diesem Zeitpunkt war nicht zu denken – eher an eine dauernde Vermeidung von Auflaufunfällen).
Schlussendlich hielt ich es kältemäßig nach knapp 10km nicht mehr aus und stattete dem ersten Dixie-Klo am Wegrand einen Besuch ab, allerdings nicht um seiner ursprünglich angedachten Verwendung willen, sondern um mich zumindest ein paar Sekunden vor der Kälte und dem Wind zu schützen, halbwegs das Kältezittern zu reduzieren und mich aufzuwärmen (wer die Dixie-Klos bei solchen Veranstaltungen kennt, weiß, dass man in solche Orte nur geht, wenn es wirklich absolut nicht mehr anders geht 😉 ).
Auch an eine Nahrungs- oder Flüssigkeitsaufnahme an den Verpflegungsstellen war nicht zu denken, die Getränke waren fast gefroren und so kalt, dass ich davon unmittelbar Magenschmerzen bekam und an ein Öffnen eines Gels oder Riegels war mit den eingefrorenen Fingern auch nicht zu denken. Martin verlor übrigens sogar seinen Power-Shot, obwohl er ihn mit seiner Hand ganz fest umklammerte, diese aber so kaltgefroren war, dass ihm der Shot einfach aus der Hand glitt und er ihn auch nicht mehr aufheben konnte. Amüsant zu erwähnen war, dass die Veranstalter – nachdem 2017 ein absolutes Hitzerennen war – an den Verpflegungsposten teilweise Eiswürfelmaschinen aufgestellt hatten 🙂 Tja, so unterschiedlich kann das Wetter um diese Zeit des Jahres sein.
Ab Kilometer 16 war es dann endgültig vorbei mit Laufpace und jeglichen Rennerwartungen, es begann nur mehr mein persönlicher Kampf ins Ziel zu kommen. Da konnten auch die kreischenden Mädels am Strassenrand bei KM 17 (die man bereits eine Meile vorher geräuschmäßig hörte) nicht mehr unterstützend helfen. Ich zitterte dermaßen am ganzen Körper, dass ich hauptsächlich damit beschäftigt war irgendwie aufrecht vorwärtszukommen und Angst hatte, dass ich mir durch das Zittern meine Zahnplomben rausbeißen könnte. Wäre dies nicht ein Marathon der Major Serie gewesen, ich hätte spätestens hier das Rennen beendet.
Und es wurde weiterhin immer kälter, windiger und der Regen nahm an Intensität immer weiter zu – etwas, was ich schon nicht mehr für möglich gehalten hätte. Schlussendlich fragte an einer Verpflegungsstation bei einer Helferin nach einem Regencape – und ich bekam eines, das in einer großen Lacke hinter der Verpflegungsstation in der Wiese lag. Egal, nass war ich sowieso schon, das Plastikcape schützte mich wenigstens etwas vor dem Wind und heftigen Regen. Ein paar Kilometer weiter fand ich am Wegrand noch eine Baufolie, die ich mir um den Oberkörper wickelte (ja, ernsthaft) und trabte so weiter gegen Sturm und Regen Richtung Ziel. Beim Halbmarathon ging ich mit knapp 1:44h durch und auf der zweiten Hälfte war mein einziger Fokus das Kältezittern in Schach zu halten und eine Laufgeschwindigkeit zu finden, die meine von der Kälte gezeichnete Beinmuskulatur nicht steinhart werden und verkrampfen ließ. An die ursprünglich von mir geplante Rennpace war nicht mehr annähernd zu denken.
Und obwohl das Wetter nicht nur für uns TeilnehmerInnen absolut scheußlich war, ließen es sich die Amerikaner nicht nehmen alle LäuferInnen entlang der Strecke begeistert zu feiern und aufzumuntern. Es war wirklich unglaublich. Teilweise selbst komplett durchnässt und vor Kälte frierend, war das Publikum und die Begeisterung entlang der gesamten Marathonstrecke ein reiner Wahnsinn. Egal bei welchem Marathon ich bereits am Start war, solch einen Enthusiasmus und Begeisterung wie in Boston durfte ich bis dahin noch nirgendwo erfahren (wenn ich dabei u.a. an Wien denke, so sind nicht einmal bei schönstem Wetter soviele Zuschauer am Streckenrand wie hier beim Boston Marathon bei diesem Schlechtwetter der Extraklasse). Hut ab vor all diesen begeisterten ZuschauerInnen, die stundenlang im Regen und bei Kälte ausgeharrt und uns MarathonläuferInnen beim Kampf gegen das Schlechtwetter und die Strecke so einmalig unterstützt haben – es war mitreißend und begeisternd und allein das schon ein Grund nicht stehenzubleiben und das Rennen zu beenden.
Stehenbleiben wäre sowieso keine Option gewesen, denn dann wäre ich wahrscheinlich augenblicklich zu einem Eiszapfen erstarrt und so nutzte ich im weiteren Rennverlauf noch das ein oder andere Dixie-Klo am Streckenrand um mich wieder einmal ein bißchen aufzuwärmen, wenn das Kältezittern zumindest ein Dahintraben schwer werden ließ.
Den Heartbreak-Hill, vor dem sich alle im Vorfeld etwas gefürchtet hatten, bekam ich ehrlich gesagt gar nicht mehr so mit, da ich dermaßen mit dem Hier und Jetzt beschäftigt war, dass ich keine Notiz mehr nahm, ob es bergauf oder bergab ging – ich zählte nur mehr die Kilometer bis zum Ziel und eigenartigerweise (obwohl die Umstände so widrig und meine Laufpace eher einem langsamen Nachmittagsläufchen entsprach) oder auch zum Glück verging die Zeit wie im Flug. Plötzlich war ich zurück in Boston, wo die Wolken noch einmal alles gaben und ordentlich Regen raushauten und schon überquerte ich die Markierung der „Last Mile“, bog rechts ab in die Seitenstrasse, die zur Zielgeraden führt und rutschte dabei beinahe auf den tausenden am Boden liegenden Regencapes und Plastifolien aus, die die LäuferInnen vor mir kurz vor dem Ziel abgestreift hatten, um zumindets einigermaßen gute und erkenntliche Bilder vom Zieleinlauf zu bekommen.
Auch ich streifte meine Folie und das Regencape ab (ohne diese beiden Dinge wäre ich an diesem Tag sehr wahrscheinlich nicht ins Ziel gekommen) und bog in die Zielgerade ein, an deren Ende – für mich zu diesem Zeitpunkt weit entfernt – die Ziellinie war. Die Zuschauer auf der Zielgerade waren komplett aus dem Häuschen, Partystimmung pur und das bei diesen Wetterverhältnissen. Man hatte das Gefühl man wurde ins Ziel getragen und das Überqueren der legendären Ziellinie in Boston entfachte in mir nicht nur Freude, sondern auch etwas Ehrfurcht und Stolz. Auch wenn ich schlussendlich fast 50 Minuten (!) länger für den Marathon gebraucht habe als ursprünglich geplant: Es war eine Erfahrung der besonderen Art und ein Erlebnis, dass ich sicherlich nie mehr vergessen werde.
Im Ziel
Im Ziel angekommen stand mir die größte Challenge allerdings noch bevor. Eine Challenge die ich so nie erwartet hätte. Durchs Ziel getrabt und von den dortigen Helfern freudestrahlend beglückwünscht worden – jede/r wollte einem die Hände schütteln (doch die waren so eiskalt und verfroren, dass es schon weh tat, jemanden auch nur zu berühren) und ich wollte nur eins: Eine Decke oder irgendetwas Warmes, denn ich begann augenblicklich wie ich aufhörte zu traben so stark zu zittern, dass sogar das Stehen und Gehen immens schwer fiel.
Doch was gab es zuerst: Wasser! Das, was ich an diesem Tag am allerwenigstens mehr sehen konnte, das hatten wir doch schon zur Genüge seit Beginn dieses Tages von oben. Noch immer keine wärmenden Decken, Folien oder ähnliches, denn als nächstes gab es die Medaille, die mir zum Glück umgehängt wurde, denn ich hätte sie mit meinen verfrorenen Händen nicht entgegennehmen können.
Dann ENDLICH Wärmefolien mit Klettverschluss – aber ich schaffte es nicht diese Folie mit meinen klammen Händen zuzumachen, bevor sie mir die Windstöße wieder auseinanderriss. Ich beschloss also mir die Wärmefolie nur herumzuwickeln und unmittelbar den Heimweg – 500m bis zum Hotel – anzutreten. Dass dies die größe Challenge des Tages werden sollte, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Da mir so kalt war, ich dermaßen durchnässt war und mich vor Kältezittern kaum mehr auf den Beinen halten konnte, schleppte ich mich mühsam quasi von einem Haus- und Hoteleingang zum nächsten um mich wenigstens dort vom Wind geschützt kurz soweit aufzuwärmen bis ich wieder fähig war ein paar Schritte weiterzugehen. Es klingt jetzt vielleicht übertrieben, aber hätte ich es selbst nicht erlebt, ich würde es nur schwer glauben – es war eine riesige mentale Aufgabe mich jedesmal neu zu motivieren ein paar Schritte vorwärts zu machen, um den Ziel (meinem Hotel) näherzukommen.
Zwar wurde ich überall, wo ich vorbei- und hinkam beglückwünscht, doch Hilfe gab es leider keine und da alle Straßen der Umgebung gesperrt waren, gab es leider auch keine Taxis. Ich benötigte ewige 90 Minuten für die gut 500m bis zu meinem Hoteleingang und es war schlussendlich für mich die größte Herausforderung an diesem Tag.
Was dann passierte ist kurz beschrieben: Stundenlanges Auftauen in der heißen Badewanne stand am Programm mit jeder Menge hochdosierter Vitamin C Einnahme (und ja, ich blieb von einer Verkühlung verschont). Die Kälte, die ich allerdings in mir an diesem Tag ansammelte, habe ich noch Tage später in den Knochen gespürt.
Meinem Laufkollegen Martin ging es im Wesentlichen nicht viel anders, allerdings meisterte er trotz der widrigen Umstände den Marathon bravorös, auch wenn er ebenfalls mit seiner für diesen Tag absolut bemerkenswerten Laufzeit von 3:07 nicht zufrieden war.
Bereits am nächsten Tag stand unser Heimflug am Programm. Vormittags spazierten wir noch etwas durch Boston, das Wetter war wieder deutlich besser. Wir verfluchten jegliche Art von Stufen, bevor es zum Abschluss noch einmal in die Cheesecake Factory und zu Ben & Jerry auf einen Abschlusssnack ging.
Der Plan auf dem Rückflug die Beine hochzulegen, abzuschalten und zu schlafen ging dann ebenfalls leider nicht auf, da Martins und meine medizinischen Fähigkeiten am Rückflug gefragt und wir durchgehend damit beschäftigt waren aus medizinischen Gründen eine Umkehr des Fliegers nach Boston zu vermeiden und gut über den Atlantik nach München zu kommen, wo wir bereits vom dortigen Notarztteam erwartet und unsere „medizinische Flugaufgabe“ stabilisiert und erfolgreich übergeben konnten. Somit war es auch zum Schluss noch einmal aufregend.
Fazit
Vier aufregende und erlebnisreiche Tage waren vorrüber und der Boston Marathon 2018 damit für mich Geschichte – und zwar eine, die ich wohl immer in meinem Gedächtnis behalten werde.
Zum Marathon selbst ist zu sagen: Eine absolut perfekt und akribisch organisierte Veranstaltung, bei der (bis auf das Wetter) nichts dem Zufall überlassen wird. Nach dem Bombenattentat von 2013 ist die Stadt scheinbar noch mehr zusammengewachsen und trotz der ganzen Sicherheitsvorkehrungen rund um das Marathonevent gab es überall kaum Wartezeiten, nur Freundlichkeit, Herzlichkeit und das Gefühl Willkommen zu sein. Das sensationelle Publikum am Marathontag (trotz dieser wirklich widrigen Wetterbedingungen) hat meinen höchsten Respekt und ist in dieser Form sicherlich einmalig. Eine einzigartige Party und Begeisterung entlang der Strecke, die sich die Menschen aus und rund um Boston von nichts und niemandem nehmen lassen. Man merkt sie leben diesen geschichtsträchtigen Marathon und sind zu Recht sehr stolz darauf!
Wer Marathon läuft, muss zumindest einmal in seinem Leben den Boston Marathon gelaufen sein – ein absolutes MUST DO, das man nicht mehr vergessen wird.
In diesem Sinne: Keep on Running! Auf Richtung London Marathon 2019 😉
Euer Doc Tom
Hallo Thomas !
Dein Bericht so authentisch wie du selbst so geschrieben. Wen man diesen Bericht ließt und selbst live dabei war, erfriert man das zweite Mal. wie du Deinen Lauf beschreibst. Ich bewundere alle die so wie Du in mehr als sommerlicher Bekleidung doch so das Ziel erreichten. Das Du Dir dabei keine Verkühlung zu gezogen hast war für mich beim Rückflug ein großes Glück. Dein großes medizinisches Können habe ich hautnah erlebt. Ein einfaches Dankeschön auch hier. Wir sehen uns in London 2019.
Rudi
Lieber Rudi, ich freue mich sehr Dich in Boston kennengelernt zu haben und gratuliere Dir auf diesem Weg nochmals sehr herzlich auch zu Deinem grandiosen Finish bei diesen wahrhaft miserablen Wetterbedingungen. Ich bewundere Dich sehr wie fit Du in Deinem Alter bist und viele Gleichaltrige Deiner „Altersklasse“ können sich ein großartiges Beispiel an Dir nehmen. Ich freue mich auf ein Wiedersehen mit Dir spätestens beim London Marathon 2019 und wünsche Dir inzwischen weiterhin viel Spaß beim Sport und Laufen und vor allem Gesundheit. LG Doc Tom
Guten Morgen Doc Tom !
Ja Tom, ich denke sehr stark an Dich wegen den Vorbereitungen für Deinen London MT
der ja am 28.4.2019 stattfindet .Wünsche Dir noch eine gute Vorbereitung dafür und viel Erfolg für diesen Lauf.
Möge es Dir gelingen.
Ich, Laufe den Wiener MT und möchte nur finishen. Habe eine Prostata und zwei Augen op die ich im Nov. und Dez. machen lassen musste. Habe 2 1/2 Monate pausieren müssen. Es geht mir soweit gut und habe mich schon für den NY MT im Nov 2019 angemeldet.
Wünsche Dir viel Gesundheit und sportliche Erfolge. Rudi Foit
Für mich der erste Bericht den ich nun als Vorbereitung für den Boston Marathon 2020 (6. WMM Stern, 150. Marathon und kurz nach meinem 50. Geburtstag) gelesen habe. Du wirst es kennen, dass dann bereits Wochen oder sogar Monate vorher jeder Schritt im Training automatisch mit einem jeweils großen Ziel assoziiert ist. Ähnliche Wetterverhältnisse kenne ich von Hochgebirgsmarathons. Tokyo 2019 war auch sehr ungemütlich. Insbesondere die Wartezeit bis zum Start. Der Bericht ist für mich sehr wertvoll. Schon wegen der Kleidung welche unbedingt ins Handgepäck muss. Und die letzten 500 Meter die kann ich mir dann auch richtig bildhaft vorstellen da ich nach diversen Ultras kaum mehr zum Gehen fähig war. Hatte mal so eine Situation wo ich nach einem 24 Stunden Lauf in Oslo, bei dem ich danach sofort zurückgeflogen bin, die Gangway rückwärts in Zeitlupe herunterging und mich ein junges Mädel fragte, ob sie mir helfen könne ;-).
Insofern besonderer Glückwunsch zum Finish. Wenn es wieder warm wird und man sich der eigenen Leistung bewusst wird denkt man ja dann trotzdem es war alle Mühe wert.
Danke dir! Ja, so ist es. Alles Gute für deine Vorhaben und Marathons! Lg, Doc Tom